Die Kraft der Improvisation: Abschlussabend im Schauspiel Leipzig
Trotz dreier in ihrem Wesen sehr unterschiedlicher Acts gelang es den Kurator*innen mit dem Abschlussabend der 48. Leipziger Jazztage erneut, ein dem Festivalmotto »Tell me…« entsprechendes Konzertprogramm auf die Bühne zu bringen. Die spontane musikalische Erzählung als Möglichkeit, Menschen zusammenzubringen, verband Sylvie Courvoisier und Evan Parker mit der Band Embryo. Dies über ein Jazzfestival zu schreiben, mag selbstverständlich klingen. Doch nicht an jedem Abend der vergangenen Woche war die Kraft der Improvisation so deutlich zu spüren wie am Samstag im Schauspiel.
Die Schweizer Pianistin Sylvie Courvoisier beginnt ihr Set an diesem Abend – noch während der Begrüßungsapplaus erhallt – mit dem Zupfen der Saiten im Flügel. Dieser unvermittelte Anfang legt nahe, dass sich Musik fortlaufend in Courvoisiers Kopf abspielt. Sie braucht lediglich ein Instrument, um diese hörbar zu machen. Die in New York wohnhafte Pianistin versteht es, sämtliche Stilmittel aus der Welt des klassischen Klaviers, des Jazz und der Improvisation intuitiv zu einem eigenen Sound miteinander zu verbinden. Melodisch-romantische Erzählungen lösen das Spiel mit Objekten im Flügel ab. Ein abstrakter Boogie-Woogie folgt Passagen, in denen sie die Klaviatur mittels Armen und Händen bespielt und so expressive Klangwelten kreiert.
Dass Sylvie Courvoisier nicht nur im Solo meisterinnenhaft improvisiert, zeigt sich im folgenden Duett mit dem 24 Jahre älteren Saxofonisten Evan Parker. Die Karriere des gebürtigen Britten begann in der europäischen und amerikanischen Free Jazz- und Improvisationszene Ende der 60er Jahre, als Courvoisier gerade geboren wurde. Er kommt gebückt und mit kleinen Schritten auf die Bühne. Sein Spiel hingegen lässt sich das Alter kaum anmerken: Mithilfe der Zirkularatmung entlockt Parker seinem Sopransaxofon schier endlose Klangketten, meist wild um einen Ton kreisend. Er reagiert blitzschnell auf kleine Veränderungen in Courvoisiers Spiel. Wie sie scheint auch er seine Ideen spontan aus den Tiefen seiner Erfahrung und Fantasie durch das Instrument in die Welt zu bringen. Hier treffen zwei Meister*innen der Improvisation aufeinander, die gleichermaßen den logischen Flow der Musik anschieben. Aus zwei individuellen Stimmen wird eine Bewegung, ein Sound.
Die Gruppe Embryo setzt Improvisation eher als expressives Mittel ein. Sie versetzt das Publikum mittels repetitiver Grooves in tranceartige Zustände. Dieser musikalische Ansatz, der später vom Techno adaptiert wurde, geht auf die 1970er-Jahren zurück, als der experimentelle Jazzrock seine Blütezeit erlebte. Aus dieser Zeit stammen auch Embryo. Doch die Musiker*innen auf der Bühne gehören einer jüngeren Generation an. Die Multiinstrumentalistin Marja Burchard übernahm 2016 die Leitung der Band von ihrem Vater und Gründer Christian.
Einige Elemente der Musik Embryos wirken etwas aus der Zeit gefallen oder exotisierend, wie zum Beispiel die Benutzung einer vereinfachten arabischen Tonleiter auf der Zither oder unverständliche einsilbige Vokaleinwürfe der Leaderin. Doch alles in allem funktioniert der Ansatz von Embryo auch heute noch. Die Energie Burchhards am Vibrafon und Keyboard reißt mit. Ein rockiges Schlagzeug, E-Bass und E-Gitarre erfüllen den Saal mit sattem Sound. Die Beteiligung des Saxofonisten und der Perkussionistin (die einzigen Bandmitglieder mit universitärer Musikausbildung auf der Bühne) mutet hingegen eher überflüssig an und wirft Fragen über die Akademisierung der Musik auf. Doch die lassen sich beim rhythmischen Mitwippen auf den engen Schauspielsitzen an diesem langen Abend auch einfach ausblenden.
TEXT: JAKOB OBLESER